Zwischen europäischer Gewaltgeschichte und kultureller Blüte

09.04.2024

Zwischen europäischer Gewaltgeschichte und kultureller Blüte: Erkenntnisse aus den ukrainischen Staatsarchiven von Czernowitz

09.04.2024, 18.00 | Pariser Platz 4A, 10117 Berlin
Präsenz-Anmeldung: https://forms.gle/HEd77V3SmA1PR2cE7
Zoom-Anmeldung: https://zoom.us/webinar/register/WN_GZEn0CKERda2xxuWOuIeig

Es diskutieren:

Nataliia Masiian
Seit 2005 als Abteilungsleiterin für Verwendung der Dokumenteninformationen und seit 2018 als leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin im Privatbetrieb „Archivinformationssysteme“ tätig. Ihre weiteren Forschungsinteressen sind die allgemeine Heimatkunde der Bukowina sowie die Tätigkeit der Bildungs- und Kulturanstalten, akademischen Verbände etc.

Mykola Rubanets
Seit Januar 2021 ist er der Direktor des Staatsarchivs der Region Czernowitz. Er forscht auf dem Gebiet der Geschichte und Ethnologie der Bukowina und der Huzulenregion, untersucht Rituale und Traditionen der Huzulen und Ukrainer von Bukowina, die Ethnogenese der Huzulen, den Befreiungskampf der Bukowiner Ukrainer im 20. Jahrhundert, die künstlich herbeigeführte Hungersnot von 1946-1947 in der Region Czernowitz sowie den Terror und die Unterdrückung durch die Sowjetmacht in der Region. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher und journalistischer Artikel.

Moderator: Andrii Portnov
Professor für Entangled History of Ukraine an der Europa-
Universität Viadrina. 2015 wurde er mit dem Baron-Velge-Preis ausgezeichnet und hielt eine Reihe von Vorlesungen als Internationaler Lehrstuhlinhaber für Geschichte des Zweiten Weltkriegs an der Freien Universität Brüssel. Er forschte und lehrte an den Universitäten Basel, Genf, der Freien Universität Berlin, Sciences Po Paris, Sciences Po Lyon und am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.
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Czernowitz (ukr. Czerniwtsi), die traditionelle Hauptstadt der ukrainischen Bukowina, ist bekannt für seine Malerei, Literatur sowie Architektur und blickt auf eine reichhaltig multikulturelle Geschichte zurück: Neben Ukrainern fühlten sich hier auch Juden, Rumänen, Deutsche, Polen und andere zu Hause. Im 19. Jahrhundert gehörte die Stadt zur Donaumonarchie und so kam es, dass damals vor allem die deutsche Sprache als Amtssprache und Vermittlersprache zwischen den unterschiedlichen Minderheiten dominierte.

Heute zählt Czernowitz etwa 270.000 Einwohner und bietet seinen Besuchern zahlreiche Sehenswürdigkeiten, z. B. die Nationale Jurij-Fedkowytsch-Universität Czernowitz, die in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen wurde, oder das Olha Kobyljanska Theater, das nach der großen ukrainischen Nationaldichterin benannt wurde. In der Geschichte der Region waren Phasen des ukrainischen Freiheitskampfes, kulturellen Blüte und totalitären Umwälzung bisweilen wenige Jahrzehnte entfernt.

In den Jahren 1946 und 1947 wurde von den Machthabern der Sowjetunion eine Hungersnot in der Ukraine verursacht, die weitestgehend dem Muster des Holodomor folgte. Vor allem Getreide, aber auch Vieh und Lebensmittel wurden von den Bauern, die vorher ihre Höfe aufgeben und in Kollektivfarmen arbeiten mussten, konfisziert und dann sowohl in andere UdSSR-Republiken als auch Satellitenländer geliefert, z. B. in die Tschechoslowakei, nach Rumänien und auch Polen. Wie viele Opfer die künstlich herbeigeführte Hungersnot zur Folge hatte, bleibt indes unter Historikern umstritten: Schätzungen reichen von 100.000 bis hin zu 800.000 Toten.

Das spätere Parteioberhaupt und der damaliger erster Sekretär der kommunistischen Parteiorganisation in der Ukraine, Nikita Chruschtschow versuchte zunächst, die Notlage zu mildern. Er intervenierte gar bei Stalin und setzte sich für einen gemäßigteren Kurs ein, letzten Endes wurde er infolgedessen jedoch vom radikal auf Parteilinie agierenden Lasar Kaganowitsch ersetzt. Der Hunger war so groß, dass es zu Akten von Kannibalismus kam. Ein Propagandaslogan der kommunistischen Partei lautete: „Das erste Brot dem Staat“.

Während der Vorlesung wird die Geschichte der Hungersnot in Bukowina vorgestellt.
Wie bereits eingangs angekündigt, war die Stadt auch Geburtsort vieler illustrer und für die Ukraine bedeutsamer Persönlichkeiten. Olha Kobyljanska, die Namensträgerin des Theaters in Czernowitz, war eine frühe Verfechterin der Frauenemanzipation und Vorkämpferin der neuromantischen Moderne. „Die Scholle“, eines ihrer wichtigsten Prosawerke, bedient sich des Kain und Abel-Motivs, um die Ursachen hinter den Dorfkonflikten in der Bukowina zum Ausdruck zu bringen. Der Roman wird häufig mit Emile Zolas „Die Erde“ verglichen.

Jurij Fedkowytsch, der Namenspatron der Universität in Czernowitz, hatte österreichische Wurzeln und verfasste Gedichte, Erzählungen und Übersetzungen z. B. von den Werken Shakespeares, Goethes und anderen. Zu den bekanntesten nichtukrainischen Autoren, die in Czernowitz geboren wurden, gehören Paul Celan und die Dichterin Rose Ausländer. Die letztgenannte überlebte den Holocaust im Ghetto ihrer Heimatstadt und war seit 1965 jahrelang in Düsseldorf als Dichterin aktiv.

Organisierende und Partner: Pilecki-Institut Berlin, Bundesarchiv, Viadrina Centre of Polish and Ukrainian Studies, Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften