Anfänge der Herstory / Początki herstorii

Anfänge der Herstory / Początki herstorii

Gespräch mit Dr. Sylwia Chutnik 

im Rahmen der Reihe 

Der Warschauer Aufstand 1944 multiperspektivisch. Eine Spurensuche

 
Wo: BVV-Saal im Rathaus Tiergarten, Mathilde-Jacob-Platz 1, 10551 Berlin
Wann: 27. September, 19 Uhr
Um eine Anmeldung wird gebeten: jakub.sawicki@cbh.pan.pl
Das Gespräch findet auf Polnisch statt und wird simultan ins Deutsche übersetzt.
Für weitere Informationen über das Projekt klicken Sie hier.
 
Sylwia Chutniks traumatisierte Heldin Maria überlebte als Jüdin das Warschauer Ghetto und kämpfte als Meldegängerin während des Warschauer Aufstandes 1944. Der Preis ihres Überlebens ist jedoch sehr hoch und die Verheimlichung ihrer jüdischen Identität wie vor allem der Verlust Ihrer Mutter im provisorisch eingerichteten Todeslager in dem berüchtigten Gemüsemarkt (targowisko Zieleniak) im Stadtteil Ochota werfen bleierne Schatten auf ihr Leben. Obwohl es sich um eine Fiktion handelt, kann die zweite Geschichte von Weibskram, bei der vier Personen aus einem Mietshaus in Ochota beschrieben werden, als ein wichtiger Auftakt und Beginn der Herstory (Frauengeschichte) innerhalb der Erzählung über den Warschauer Aufstand gesehen werden.
 
 
Es folgten u. a. der Dokumentarfilm Powstanie w bluzce w kwiatki – Życie codzienne kobiet w czasie Powstania Warszawskiego [Aufstand in geblümter Bluse – Alltag von Frauen während des Warschauer Aufstandes] (Feminoteka PL 2009) und die wissenschaftliche Arbeit Płeć powstania warszawskiego [Das Geschlecht des Warschauer Aufstandes] von der Soziologin Weronika Grzebalska (Instytut Badań Literackich PAN 2013). Angesehen werden können diese unterschiedlichen Beiträge als die ersten feministischen Gegennarrative zu der männlichen Meistererzählung, die bis heute die erinnerungskulturelle Landschaft Warschaus und Polens dominiert.
 
Was ist in Polen der letzten beiden Jahrzehnte passiert, dass die Nische der feministischen Geschichte über den Zweiten Weltkrieg den Weg in das Museum des Warschauer Aufstandes fand, wo letztes Jahr die erste Ausstellung über Frauen während der 63 Tage 1944 gezeigt werden konnte? Warum sind die Schicksale von Frauen, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, mit ihren Nächsten als Teil der zivilen Bevölkerung ums Überleben und in den Reihen der Aufständischen (ca. 20 %) kämpften nicht nur für die heutigen Warschauerinnen und Warschauer so wichtig? An welchen Stellen, der nicht selten traumatisierenden Erfahrungen von Frauen und Mädchen sind Universalisierungen möglich, mit denen aus der Geschichte eines Aufstandes in Ostmitteleuropa vor 80 Jahren Bezüge zu anderen Konflikten und Erfahrungsräumen hergestellt werden können?
 
Sylwia Chutnik hat einen Doktortitel in Geisteswissenschaften und ist Absolventin der Kulturwissenschaften an der Universität Warschau. Zudem ist sie Schriftstellerin, Publizistin, soziale Aktivistin, Sängerin und Förderin der Literatur.
In ihrer Magisterarbeit beschäftigte sie sich mit dem Phänomen der Sängerin Madonna aus feministischer Sicht und in ihrer späteren Doktorarbeit mit dem Alltagsleben im Warschau der Nachkriegszeit 1954-55. Ihr literarisches Debüt gab sie 2008 mit dem Buch Weibskram (poln. Originaltitel: Kieszonkowy atlas kobiet), in dem eine der vier Hauptfiguren eine ehemalige Meldegängerin des Warschauer Aufstands ist. Ein Jahr nach ihrem gefeierten literarischen Debüt war sie Mitautorin des Dokumentarfilms Aufstand in geblümter Bluse - Der Alltag der Frauen während des Warschauer Aufstands (poln. Orginaltitel: Powstanie w bluzce w kwiatki - Życie codzienne kobiet w czasie Powstania Warszawskiego).
Gemeinsam mit der Kulturanthropologin Monika Sznajderman veröffentlichte sie 2023 einen Sammelband mit dem Titel Kwestia charakteru. Bojowniczki z getta warszawskiego [Eine Frage des Charakters. Kämpferinnen aus dem Warschauer Ghetto] und kehrte somit thematisch zum Krieg zurück.
Sie nutzt ihre Popularität ebenfalls für soziale Kampagnen. Sichtbar beispielsweise in ihrem Engagement für das Gedenken an die Massenvergewaltigung auf dem Gemüsemarkt (Zieleniak) im Stadtteil Ochota während des Warschauer Aufstands. Außerdem ist sie inhaltliche Beraterin für das Monodrama Ocalone [Die Überlebenden] (Drehbuch Piotr Rowicki, Regie Maja Kleczewska) über sexuelle Gewalt im Warschauer Gemüsemarkt (Zieleniak), das am 30. September 2024 im Dom Spotkań z Historią [Haus der Geschichte in Warschau] seine Premiere haben wird.