Rede zum Volkstrauertag am 19. November 2017 auf dem Golm (Usedom)

19.11.2017

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
sehr geehrte Lehrer und Schüler,    

seit ein paar Jahren begehen die Einwohner von Usedom und Świnoujście und auch die Nachfahren der Einwohner von Swinemünde gemeinsam den Trauertag. Es liegt hier eine gewisse Gegensätzlichkeit vor und gleichzeitig steht diese Zusammenkunft im Zeichen der Zeit. Die positive Gegensätzlichkeit beruht darauf, dass sich der Volkstrauertag traditionell und aufgrund seines Wesens eigentlich auf die Trauer eines Volkes bezieht. Unterdessen treffen sich hier, in Golm, nicht nur Deutsche sondern auch Polen, um gemeinsam das Andenken an die tausenden auf tragische Weise Verstorbenen und Gefallenen, zur Zeit der erschütternden Ereignisse v.a. vom März 1945, zu gedenken. Knapp zwei Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Die Toten zu ehren, sowohl die Gefallenen als auch die unschuldigen Opfer, ist tief verwurzelt in der europäischen Tradition und christlichen Kultur. Heute rufen wir die Verstorbenen ins Gedächtnis der gegenwärtigen Generation – der Kinder und Enkelkinder – zurück. Wir schreiben sie in das kulturelle Gedächtnis der Polen und Deutschen ein. Der heutige Tag ist auch ein Moment der Reflexion über die Sinnlosigkeit des Krieges, über die Art und Weise seines Gedenkens und der Erinnerung an ihn durch die nachfolgenden Generationen.

Auf einem Friedhof, einem authentischen Ort der Trauer, nimmt die Reflexion einen besonderen Charakter an. Wir befinden uns inmitten derer, die nicht mehr über ihr Leben und ihren Tod erzählen können. Unter den hier begrabenen paar tausend Menschen sind uns nicht mehr als 10% mit vollständigen Namen bekannt. Das sind vor allem Soldaten und Patienten aus Krankenhäusern. Wir kennen ihr Alter, wissen, ob sie verheiratet waren oder Kinder hatten. Wir sind in der Lage, ihre Geschichte zu erzählen. Den tragischen „Rest“ stellen anonyme Opfer dar: die Einwohner von Swinemünde, Flüchtlinge aus Ostpreußen, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Bei den Letztgenannten kennen wir nicht einmal die Nationalität. Wer sind sie gewesen? Wie sah ihr Schicksal aus, als sie in fast jedem deutschen Haushalt in Vorpommern Zwangsarbeit leisten mussten? Wir wissen, dass es über 3 Millionen aus Polen stammende Zwangsarbeiter in ganz Deutschland gab. Wir wissen jedoch nicht, wie viele auf der Insel Usedom ums Leben gekommen sind.

In diese unklaren Geschichten schreiben sich meine beruflichen Erfahrungen als Historiker und familiären Erfahrungen ein.

Nur durch Zufall wurde ich in Masuren geboren, einer Region, in der sich mein Vater nach dem Krieg niedergelassen hatte. Er hat nicht gewusst, dass er nach Angerburg zurückgekehrt ist, wo nach dem Krieg sein Nomadendasein als Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter begonnen hatte.

Mehr als 3 Jahre hat er im 80km (von hier) entfernten Neubrandenburg und Friedland im Stammlager Stalag II A „Fünfeichen“ verbracht. Sein Bruder wurde im benachbarten Lager ermordet.

In der Erinnerung der Flüchtlinge aus Ostpreußen ist die Zwangsarbeit kaum präsent. In ihrem Fokus stehen zwangsläufig die eigenen Schicksalsschläge, und zwar die dramatische Flucht aus den Heimatgebieten im Winter 1944/45. Das eigene Leid ist spürbar. Gibt es auch einen Platz für das Leid des Anderen?

Deutsches und Polnisches Erinnern ist nicht gleich, aber es muss sich nicht ausschließen. Das wichtigste ist, dass man die Geschichte des Nachbarn kennt. Häufig sprechen wir vom „Ende der deutschen Vergangenheit“ wenn es um die Städte Danzig, Stettin oder Swinemünde im Jahr 1945 geht. Aber lohnt es sich nicht, genauso stark daran zu erinnern, dass der Beginn des verheerenden Abbruchs der Kontinuität zuerst 1933 und später 1939 mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Polen stattgefunden hat? Das gemeinsame Schicksal der Polen und Deutschen, das sich in den Vertreibungen Millionen von Menschen „aus deren Osten“ äußert, wird nur dann verständlich, wenn wir die Zeit der deutschen Besetzung Polens 1939-1945 grundlegend aufarbeiten. Dieses Ereignis ist immer noch eine unzureichend verzeichnete Geschichte, sowohl in deutschen Schulbüchern als auch im allgemeinen Geschichtsbewusstsein.

Hier auf der Insel Usedom, auf dem Friedhof in Golm, in der Nachbarschaft zum polnischen Świnoujście vollzieht sich im lokalen Rahmen eine neue Öffnung in der deutsch-polnischen Aufarbeitung der verhängnisvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts. In dieser Woche hat Wolfgang Thierse, jahrelanger Abgeordneter und Oppositioneller in der DDR, in einem Aufruf an den neu gewählten Bundestag die Bürgerinitiative zur Errichtung eines Denkmals für polnische Opfer des nationalsozialistischen Terrors verkündet, das in Berlin entstehen soll. Ich habe den Eindruck, dass hier, auf der Insel Usedom, das Bewusstsein über die Asymmetrie der deutsch-polnischen Geschichte – dank der gemeinsamen, nachbarschaftlichen Initiative – bestens bekannt ist. Darauf nimmt nicht nur die gemeinsam abgehaltene Trauerfeierlichkeit Einfluss sondern auch das aktive Wirken der Golm-Begegnungsstätte in Kamminke, das von Herrn Mariusz Siemiątkowski und Frau Kinga Sikora geleitet wird.

Sehr geehrte Damen und Herren, bereits seit mehreren Jahren haben Historiker eine neue Quelle zur Erforschung der Gegenwartsgeschichte eingeführt. Es handelt sich dabei um Gespräche mit Zeitzeugen, bekannt unter der Bezeichnung oral history. Damit die Geschichte nicht anonym bleibt, brauchen wir ständig neue Methoden, um auch die Stimmen derer hörbar zu machen, die als stumme Zeugen auftreten und unwiederbringlich von uns gegangen sind. Daran arbeiten professionelle Historiker. Wir können auch weiterhin das Projekt der angewandten Geschichte ausarbeiten, in dem Lehrer wie Schüler eingebunden sind. Hier, in Usedom, in Swinemünde, sehe ich einen besonders geeigneten Ort, um das Vorhaben zu realisieren.          
Im Andenken an diejenigen, die unschuldig ums Leben gekommen sind, sollten wir nicht vergessen, dass wir heute die Geschichte für kommende Generationen schreiben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit

Robert Traba

Kamminke / Golm 2017