Bericht: 1968: Warschau – Berlin

09.07.2018

1968: Warschau – Berlin

Podiumsdiskussion mit Adam Michnik und Prof. Andreas Nachama anlässlich des 50. Jubiläums der Ereignisse von 1968

 

Am 12. Juni 2018 fand im ZHF die Podiumsdiskussion um die Ereignisse aus dem Jahr 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen statt.
Zusammen mit em ehemaligen Oppositionellen und einem wichtigen Zeitzeugen der damaligen Ereignisse in Polen, Adam Michnik, und dem Historiker Prof. Andreas Nachama diskutierten die Gäste Fragen zu den Hintergründen, Forderungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Studentenrevolten.
Modieriert wurde das Treffen von der u.a. langjährigen Polen-Korrespondentin der taz Grabriele Lesser.
Zu der Veranstaltung luden ein das Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften und die Stiftung Genshagen.

Im Folgenden können Sie einen zentralen Ausschnitt aus dem Gespräch Gabriele Lessers mit Adam Michnik nachlesen, in dem Michnik auf die Frage antwortet, warum die Regierung in der Volksrepublik Polen mit einer antisemitischen Kampagne auf die Studentenproteste reagierte:

Im Jahr 1968 hatten wir es mit Antisemitismus ohne Juden zu tun, heute haben wir Islamophobie ohne Muslime. [...]
Wenn man den Menschen keine Ideologie anbieten kann, muss man ihnen eine alternative Version der Geschichte vorstellen, […] eine verlogene, mystifizierte, unfaire, die es ihnen jedoch ermöglicht […]  sich zu erheben […].
Somit berief sich das gesamte Vorgehen auf ein gewisses verlogenes Gejammer des polnischen Geschichtsbewusstseins. Polen haben das Gefühl, eine unschuldige Nation mitten in Europa zu sein… Wir haben niemandem jemals etwas zu Leide getan... alle haben lediglich uns Unrecht getan, tun es weiterhin und wir müssen uns wehren. Zum Beispiel Gross – ein furchtbarer Mensch dieser Gross – publizierte ein Buch darüber, wie Polen das jüdische Dorf Jedwabne ermordeten.
Erstens – „Nicht Polen, sondern Deutsche“.
Zweitens – „Nicht ermordet“.
Drittens – „Wenn ermordet, dann zu Recht“.
Und viertens – „Die Juden haben sich gegenseitig ermordet“. 
Das alles ergibt selbstverständlich keinen Sinn, aber, wenn man sich diese Kollektivpropaganda im Internet näher ansieht […] dann findet man stichwortartig solche Einträge.

Warum wurden Juden zum Mittelpunkt der gesellschaftlichen Revolution von 1968?

Die erste bedeutende gesellschaftliche Revolution fand in Polen im Jahr 1942 statt, als Deutsche Juden aus den Ghettos vertrieben und ermordeten – in einer Stadt, in einer nächsten Stadt… es blieben Häuser, es blieben Gegenstände: Bettwäsche, Tassen, Gabel, Messer, ein paar Hühner, ein paar Schweine.
Der Mensch fühlt sich elend, wenn er in einer fremden Wohnung lebt. Er hat dieses Gefühl jemandem etwas wegzunehmen. […] Diese aus dem Unterbewusstsein hervorkommende Angst, dass die Juden wiederkommen werden um das was ihnen gehört wiederzubekommen. Es spielt keine Rolle, dass diese Juden zu 99% in Auschwitz verbrannt wurden usw. ES GIBT DIESE VERSTECKTE ANGST. Wenn man sich darauf beruft, kann man sicher sein, dass diese Angst eine Reaktion mit sich führen wird.
[1968 gab es diese Denkweise:] sie [die Regierung] sagt, dass man vor Juden Angst haben soll, weil sie wiederkommen werden um das was ihnen gehört, zurückzuholen. […]
Diese mentale Unsicherheit entstand, als man plötzlich sagen und fühlen durfte: „Ich hasse Juden!“
Warum? Erstens, weil „sie für das Ministerium für Öffentliche Sicherheit arbeiteten“, „sie an der Macht waren“, „sie außerhalb der Kritik standen“, „sie ihr Denkmal für den Ghettoaufstand hatten und wir keinen für den Warschauer Aufstand bekamen“. Es war erlaubt Jude in einer kommunistischen Partei zu sein, weil es zu den Stereotypen passte und es war verboten Teil der AK (Heimatarmee) während der deutschen Besatzungszeit gewesen zu sein (…). Es entstand ein Schwächesyndrom und es entstanden Komplexe. Und im Jahr 1968 hat das alles zusammengepasst. [...] Dies bildet bis heute eine Ansammlung des Bewusstseins, mit dem nie abgerechnet wurde. [...] In Polen hat das Jahr 1968 für lange Zeit die Luft vergiftet.